Der Amerikaner Terry Holdbrooks war Aufseher im Militärgefängnis Guantánamo. Und hat dabei zum Islam gefunden!
Ein junger Amerikaner mit dichtem Bart und Wollmütze bahnt sich seinen Weg durch den Hof vor einer Moschee in Berlin. In seinen Ohrläppchen hat er Löcher, so groß wie 50-Cent-Stücke, aus den Ärmeln seines Parkas sehen seine tätowierten Handgelenke hervor. Zu Hunderten stehen die Menschen hier und warten auf den Beginn des Freitagsgebets. Sie sehen ihn an, keiner weiß so recht, was er von diesem jungen Mann halten soll, bei dem scheinbar nichts zusammenpasst, der den Bart eines Gläubigen trägt, dem aber die raue Vergangenheit unter die Haut geschrieben ist.
Der Mann heißt Terry Holdbrooks, er ist 27 und kommt aus Tempe in Arizona. Er ist zu Besuch in Berlin, er versteht kein Wort von dem, was hier im Hof der türkischen Moschee gesprochen wird. Aber das spielt für ihn keine Rolle. Denn bei all den Unwägbarkeiten gibt es eine verlässliche Konstante: In wenigen Minuten wird die Digitaluhr an seinem Handgelenk piepsen, dann ist es 13 Uhr, die Sonne hat ihren höchsten Stand erreicht, Zeit für das Mittagsgebet. Zeit für das immer gleiche Glaubensbekenntnis, das er jeden Tag fünfmal spricht, 1825-mal im Jahr. Es ist diese stete Wiederkehr, die er so schätzt.
Bis vor ein paar Jahren wusste Terry Holdbrooks nicht mal, dass Muslime fünfmal am Tag beten. Da hörte er noch Heavy-Metal-Musik, war US-Soldat und kurz davor, seinen Dienst als Wächter im Militärgefängnis von Guantánamo Bay anzutreten. Als er den US-Stützpunkt auf Kuba ein Jahr später wieder verließ, war er nicht nur Muslim geworden, sondern hatte auch einen zweiten Namen dazubekommen: Mustafa Abdullah. Den Namen haben ihm die Häftlinge gegeben.
Ausgerechnet dort, wo die »Schlimmsten der Schlimmsten« zu bewachen waren, wie Terry Holdbrooks’ Vorgesetzte ihm einbläuten, wurde er zum Muslim. Er nahm die Religion des Feindes an. »Wäre ich nicht nach Guantánamo gekommen, wäre ich heute kein Muslim«, sagt Terry Holdbrooks. Und das sagt einiges aus über das Gefängnis.
Holdbrooks besucht für ein paar Wochen eine Freundin in Kiel, die er über Facebook kennengelernt hat. Er hat gerade Ferien vom College, dieses Jahr wird er seinen Abschluss machen. Es ist sein erster Besuch in Deutschland, da will er sich auch die Hauptstadt ansehen, und weil Freitag ist, der muslimische Feiertag, geht er in die Moschee. Das tut er jede Woche, egal, wo er ist. Nach dem Gebet macht er sich auf ins Hotel. Obwohl es erst kurz nach ein Uhr mittags ist, braucht Terry Holdbrooks jetzt erst mal Ruhe. Die Zugfahrt hierher hat ihn müde gemacht. Die vollen Waggons, die vielen Menschen auf den Bahnhöfen, all das strenge ihn an, sagt er. »Ich hasse Menschenmengen, sie machen mich verrückt. Ich brauche Struktur und Ordnung.«
Für die paar Tage, die er in Berlin bleiben wird, hat er viel Gepäck dabei. In einer der vier Taschen ist sein Laptop, den nimmt er immer mit, um Filme ansehen und ins Internet gehen zu können. Holdbrooks hat eine eigene Website, und auf Facebook hat er fast 800 Freunde. In der muslimischen Internet-Community hat es der Guantánamo-Wächter, der zum Muslim wurde, zu bescheidener Berühmtheit gebracht. In einer anderen Tasche hat er seine Militärdecke dabei, seine » blankie«, wie er sagt, eine Verniedlichung von blanket. Obwohl er die U.S. Army längst verlassen hat, weil man ihn dort nicht mehr wollte, nimmt Holdbrooks die Decke auf allen Reisen mit. »Ich schätze das Militär und den Islam«, sagt er. »Wegen der Disziplin.« Bei einem wie ihm, auf dessen Armen kaum mehr weiße Haut zu sehen ist, weil er sich überall Bilder, Songtitel und Stacheldraht tätowieren ließ, würde man Disziplin nicht als erste Tugend erwarten. Aber sein Inneres und Äußeres passen schon länger nicht mehr zusammen.
Terry Holdbrooks ging mit 19 zur Armee, weil er endlich Ordnung in sein Leben bringen wollte. »Ich wollte auf keinen Fall so werden wie meine Eltern und Großeltern«, sagt er. Terrys Mutter war 17, als er zur Welt kam. Die Zuneigung seiner Mutter beschreibt er als tough love, als raue Liebe. Seine Eltern waren heroinsüchtig. Weil sie sich nicht mehr um den Jungen kümmern konnten, kam er mit sieben Jahren zu den Eltern seiner Mutter. Die Großeltern waren in die Jahre gekommene Hippies, die ein Leben in Freiheit führen wollten, aber mit der Freiheit offenbar kaum besser zurechtkamen als ihre Tochter. Holdbrooks’ Großvater trank, die Großmutter rauchte Marihuana. »Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie mich erziehen«, sagt er, diese Aufgabe habe der Fernseher übernommen.
Vielleicht hat seine Biografie viel mehr mit seiner Konversion zu tun, als er selbst zugeben würde. Er sei immer schon auf der Suche gewesen, sagt Terry Holdbrooks. Er hat in der Bibel gelesen, der Thora und der Bhagavad Gita der Hindus. Es seien aber nicht die familiären Probleme gewesen, die ihn zu einem Suchenden machten. »Familie wird total überschätzt«, sagt er und klingt dabei wie jemand, der sich schlicht damit abgefunden hat, dass er nie eine richtige hatte. Dafür ist die muslimische Gemeinde in seiner Heimatstadt Tempe eine Ersatzfamilie für ihn geworden, dort verbringt er seine Freizeit. Die anderen Gläubigen nennt er »Brüder« und »Schwestern«.
Aber zunächst ist es die Armee, die dem 19-jährigen Terry die Regeln gibt, die er so vermisst. Dort wird alles für ihn arrangiert, nichts muss er selbst entscheiden. Nicht mal, welche Erdnussbutter er aufs Brot haben will. Im Armeeladen gibt es nur eine Sorte und nicht 20 verschiedene wie im Supermarkt. Das gefällt Terry Holdbrooks. »Es macht das Leben so viel einfacher, wenn man die ganze unnötige Verwirrung eliminiert«, sagt er.
Nach der Grundausbildung kommt er zur 252. Militärpolizei-Einheit in Missouri, dort ist er vor allem für die Bewachung des Stützpunktes zuständig. Holdbrooks ist frisch verheiratet, seine Frau hat er erst drei Monate zuvor kennengelernt. Sie waren sich sicher, ihr Leben für immer teilen zu wollen. Dann wird seine Einheit nach Guantánamo verlegt.
Damals im Juni 2003 hatte er noch nie von Guantánamo gehört, obwohl das Gefängnis schon seit anderthalb Jahren bestand. Nach kurzer Zeit dort wird ihm klar, dass es das, was er bei der Armee gesucht hat, eine Ordnung, an diesem Ort nicht gibt. Denn das Gefängnis wurde ja eingerichtet, um Regeln und Gesetze umgehen zu können. Dafür wird er dort etwas anderes finden, das seinem Leben eine Richtung gibt. Und das es bis heute bestimmt.
Holdbrooks sitzt in einem Berliner Restaurant, auf dem Kopf trägt er eine gehäkelte Kappe. Seine Tätowierungen versteckt er unter langen Ärmeln. Auch seine schweren Ohrringe trägt Terry Holdbrooks nicht mehr. Aber auffällig ist seine Erscheinung trotzdem noch, und das gefällt ihm auch. Mit der Kappe und dem Bart ist er eindeutig als gläubiger Muslim zu erkennen. Eine Frau am Nebentisch starrt ihn an. Holdbrooks scheint das nicht zu stören. Sein Essen kommt. Kalbsschnitzel mit Kartoffeln und Salat. Er beginnt zu essen, erst das Fleisch, dann die Kartoffeln und am Ende den Salat, alles der Reihe nach. Selbst beim Essen muss alles seine Ordnung haben.
Vor Kurzem hat Terry Holdbrooks ein Buch über seine Konversion und seinen Dienst in Guantánamo geschrieben, noch sucht er nach einem Verlag. »Guantánamo ist noch lange nicht vorbei, das ist klar, seitdem Barack Obama im März die Militärtribunale wieder zugelassen hat«, sagt Terry Holdbrooks. Eine Entscheidung, die viele von Obamas Sympathisanten schockierte. Kürzlich hat Holdbrooks die Mutter des Häftlings Omar Khadr in Kanada besucht. Um die Öffentlichkeit auf den Fall des heute 24-Jährigen aufmerksam zu machen, hat er ein Video von dem Treffen ins Netz gestellt. Omar Khadr, pakistanischer Herkunft, war als Kind von seinem Vater aus Kanada nach Afghanistan gebracht worden. Zum Kämpfen. Mit 15 wurde Khadr von US-Soldaten festgenommen. Letzten November verurteilte ihn ein Militärtribunal zu acht Jahren Haft, dabei hätte er nach internationalen Standards gar nicht vor dieses Tribunal gestellt werden dürfen, weil er als Kindersoldat galt.
Obwohl auch die UN gegen das Verfahren protestiert hatten, nahmen die Medien kaum Notiz von der Verurteilung Omar Khadrs. Guantánamo regte keinen mehr auf. Als habe Obamas Ankündigung, das Lager irgendwann schließen zu wollen, die Öffentlichkeit vergessen lassen, dass es existiert.
Insgesamt saßen 779 Gefangene in Guantánamo ein, sie alle galten den USA als gefährliche Terroristen, aber nur sieben Verfahren wurden durch die USA bisher abgeschlossen, darunter das gegen Osama bin Ladens Chauffeur Salim Hamdan, der 2008 zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Gegen die große Mehrheit der Gefangenen hatte man aber keine Beweise, wie auch die kürzlich von WikiLeaks veröffentlichten Geheimdokumente der US-Regierung belegen. Heute sind noch 172 Männer inhaftiert, rund hundert sollen freigelassen werden, 33 soll der Prozess gemacht werden, auch Khalid Scheich Mohammed, einem der Köpfe hinter den Anschlägen vom 11. September. Die übrigen sollen auf unbestimmte Zeit inhaftiert bleiben, ohne jegliche Ahnung, was mit ihnen passieren wird.
Die meisten Gefangenen waren in Afghanistan oder Pakistan unter dem Verdacht, sie seien Al-Qaida-Mitglieder oder -Helfer, festgenommen worden, zum Teil vom US-Militär, andere wiederum völlig willkürlich von pakistanischen Sicherheitskräften oder der Nordallianz, die von den Amerikanern dafür bezahlt wurden. Die USA sehen in den Verhafteten keine Kriegsgefangenen, sondern illegale Kombattanten, weshalb für sie die Genfer Konvention nicht gelten soll – ein Freibrief für Missbrauch und Folter.
Terry Holdbrooks fühlt sich schon am ersten Morgen auf dem Stützpunkt wie ein Außenseiter. Als er zum Frühstück in die Kantine kommt, wundert er sich über die laute Musik, die ihm aus einem Fernseher entgegendröhnt. Er erkennt den Terminator2- Soundtrack, gefolgt von dem Heavy-Metal-Song Bodies – »Leichen«. Es ist kein Musikvideo, das da zur Unterhaltung läuft, sondern ein kurzer Militärfilm mit Explosionen, Gefangenen mit Tüten über dem Kopf, amerikanischen Flaggen und einem Lauftext, gerichtet an die Taliban: »Die US-Streitkräfte werden euch aufspüren. Wenn ihr euch nicht ergebt, werden wir euch bombardieren und töten, egal wo ihr euch versteckt.« Während einige Kameraden im Takt mitwippen, verschlägt es Terry Holdbrooks den Appetit. Er versteht sofort die Botschaft des Videos: »Es sollte uns daran erinnern, dass wir hier nicht mehr auf US-Boden sind und keine Regeln mehr gelten.« Das Video wird jeden Morgen gespielt. Anstelle der Nationalhymne.
Die ersten Wochen leistet Holdbrooks seinen Dienst in Lager 4, dem Lager mit der niedrigsten Sicherheitsstufe. Zu seinen Aufgaben gehört es, den Gefangenen Essen zu bringen, sie zur Dusche und zu den Verhören zu eskortieren. Später hat er auch Dienst im berüchtigten Camp Echo, dort sitzen – teilweise in Isolationszellen – Gefangene ein, von denen man sich besondere Informationen verspricht. Bei den Verhören selbst sei er nicht dabei gewesen, sagt Holdbrooks. Aber er sieht, in welchem Zustand die Männer danach herauskommen. Sie sind verzweifelt, einige von ihnen völlig durchnässt, vom Waterboarding, wie Holdbrooks vermutet – einer Foltermethode, bei der der Häftling glaubt, zu ertrinken. Bei anderen Gefangenen sieht Holdbrooks Wunden an Hand- und Fußgelenken. Sie waren über Stunden so gefesselt, dass Schäden an Muskeln und Gelenken entstanden. Oft muss er Häftlinge mitten in der Nacht in eine andere Zelle verlegen, teilweise im Stundentakt, sodass die Männer keinen Schlaf finden, dann werden sie verhört. Die Aufseher nennen diese Foltermethode zynisch das »Vielfliegerprogramm« . Er erlebt, wie einige seiner Kameraden bei Zellendurchsuchungen die Köpfe der Häftlinge auf den Boden schlagen, ihnen in den Magen treten oder Bier ins Gesicht spucken. »Manchmal waren es einfache Wächter, die zuschlugen, manchmal Hauptmänner, das hatte mit dem militärischen Rang nichts zu tun.« Die Misshandlungen seien zwar von der Gefängnisleitung nicht offen unterstützt worden, aber es sei auch nichts dagegen unternommen worden.
Einmal fällt ihm in seinem Zellenblock ein Häftling auf, der laut einen Eminem-Song rappt. Er kommt mit ihm ins Gespräch, der Häftling, Ruhal Ahmed, ist Engländer. Er erzählt Holdbrooks, dass er gemeinsam mit Freunden auf dem Weg zu einer Hochzeit in Pakistan verhaftet worden sei. Mit al-Qaida hätten sie nichts zu tun. Ahmed wird vier Jahre später tatsächlich als unschuldig freikommen. Holdbrooks hat gleich bei seinem ersten Gespräch mit ihm Zweifel. Er kann sich nicht vorstellen, dass dieser Mann, der dieselben Filme mag wie er und amerikanischen Rap, ein fanatischer Muslim und Amerika-Hasser sein soll. Vor allem nachts, wenn es wenig zu tun gibt im Block, unterhält sich Holdbrooks immer öfter mit den Englisch sprechenden Häftlingen. Neben Ruhal Ahmed und seinen Freunden ist da auch Ahmed Errachidi, der in London als Koch gearbeitet hat.
Der Soldat Holdbrooks ist beeindruckt von diesem Mann, der trotz Schlafentzug und Schlägen aufrecht wirkt und kein schlechtes Wort über die Amerikaner verliert. Einmal beendet Errachidi ihr Gespräch mit dem Satz: »Ich werde dafür beten, dass dir vergeben wird.« Holdbrooks wundert sich, warum Errachidi für ihn, den Wächter, beten will.
Errachidi sei eine Autorität unter den Gefangenen gewesen, sagt Holdbrooks. »Ein Wort von ihm genügte, um den ganzen Block zu beruhigen.« Holdbrooks lernt ihn als Menschen kennen, dem der Glaube so viel Kraft gibt, dass er sich selbst im Gefängnis noch frei fühlt. In ihren Gesprächen reden der Soldat und der Häftling nicht nur über Religion, sondern auch über den Krieg im Irak, über die Ursachen des Konfliktes zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden in der Kolonialzeit, wovon Terry Holdbrooks noch nie etwas gehört hat. Er beginnt vieles, was ihm bis dahin richtig erschien, infrage zu stellen.
Das bemerken auch Kameraden. Ihnen fällt auf, dass sich Holdbrooks ungewöhnlich häufig mit den Gefangenen unterhält. Eines Abends schlagen ihn sechs Soldaten zusammen. Holdbrooks zeigt sie nicht an. »Das Militär hat seine eigenen Regeln«, sagt er. Terry Holdbrooks ist bald isoliert in seiner Einheit, es gibt nur zwei Kameraden, die ähnlich über Guantánamo denken wie er. Außerdem vermisst er seine Frau. »Ich fühlte mich wie ein Häftling«, sagt er. »Nachts träumte ich, dass ich selbst eingesperrt wäre.« Damals habe er sich gefragt, ob es nicht der Glaube sei, der ihm im Leben fehle. Er beginnt im Koran eines Häftlings zu lesen. Die Klarheit der Worte gefällt ihm. »Der Koran ist von allen heiligen Büchern, die ich gelesen habe, am einfachsten zu verstehen«, sagt Holdbrooks. Da ist sie, die Ordnung, die er immer gesucht hat.
Holdbrooks hört auf, Alkohol zu trinken, betet heimlich. Eines Nachts, ein halbes Jahr nachdem er in Guantánamo angekommen ist, setzt er sich wieder vor die Zelle von Errachidi. Er bittet den Mann, ihm das islamische Glaubensbekenntnis abzunehmen. Diese Worte, vor zwei Zeugen auf Arabisch gesprochen, machen ihn zum Muslim. Der Häftling schreibt dem Soldaten die Worte in Lautschrift auf einen Zettel und reicht sie ihm durchs Gitter, dann weckt er seinen Zellennachbarn. Der Soldat liest die Worte ab, die beiden Häftlinge hören zu, wie er sagt: »Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet.« Danach schaut er auf die Uhr. Es ist 0.49 Uhr, er ist jetzt Muslim. Die Häftlinge nennen ihn von nun an Mustafa Abdullah.
Der Mann, der ihm damals das Glaubensbekenntnis abnahm, lebt heute in Tanger, Marokko. Ahmed Errachidi wurde 2007 aus Guantánamo entlassen. Die Vorwürfe des US-Militärs, er sei in einem Terrorcamp ausgebildet worden, konnten seine britischen Anwälte widerlegen, indem sie Gehaltsabrechnungen eines Londoner Hotels präsentierten, in dem Errachidi zu jenem Zeitpunkt gearbeitet hatte. Alle Anschuldigungen gegen den heute 44-Jährigen wurden fallen gelassen. Seit einiger Zeit haben Terry Holdbrooks und er wieder engen Kontakt, sie unterhalten sich mindestens einmal die Woche über Skype.
Ahmed Errachidi hat Terrys Mut gefallen, mit dem er sich gegen seine Kameraden stellte und mit den Häftlingen sprach. Er schreibt das in perfektem Englisch in einer E-Mail aus Tanger, telefonieren möchte er nicht, es falle ihm leichter, die Antworten aufzuschreiben. »Terry ist ein Freigeist. Ihn hat unsere orangefarbene Häftlingskleidung nicht abgeschreckt.« Terry sei nachdenklich darüber geworden, dass die Häftlinge noch lächeln konnten, während die Soldaten schlecht gelaunt waren, obwohl sie in Freiheit lebten.
Vor den anderen Soldaten hält Terry Holdbrooks seinen Übertritt zum Islam geheim. Selbst als er von seinem einjährigen Dienst in Guantánamo zurückkehrt, spricht er mit niemandem darüber, auch nicht mit seiner Frau. »Ich wollte einfach alles hinter mir lassen«, sagt Terry Holdbrooks. Er habe sich geschämt, »an einem so abscheulichen Ort wie Guantánamo gedient zu haben«. Es dauert nicht lange, bis er wieder in sein altes Leben zurückfällt, der Glaube wird ihm immer unwichtiger. Gleichzeitig bekommt er Guantánamo nicht aus dem Kopf. Eines Nachts wird er von einem Geräusch geweckt und schlägt seiner Frau, die neben ihm liegt, im Halbschlaf brutal ins Gesicht. Er glaubt, sie sei ein Eindringling. Wenig später verlässt sie ihn.
Holdbrooks beginnt zu trinken und fällt in eine Depression. 2005 versucht er, sich das Leben zu nehmen, einige Monate später wird er aus der Armee entlassen. Auch in den nächsten Jahren bekommt er sein Leben nicht in den Griff. Eines Nachts, nach einem Drogenexzess, zieht er sich bei einem Sturz schwere Kopfverletzungen zu. Es dauert Monate, bis er wieder gesund ist. Weil er dem Tod zweimal entkommen ist, glaubt er, Gott habe einen Plan mit ihm. Am Neujahrstag 2009 hört Holdbrooks auf zu trinken, er schließt sich der muslimischen Gemeinde seiner Heimatstadt an. Ihm wird klar, dass er sich mit Guantánamo auseinandersetzen muss, wenn er es hinter sich lassen will. Er schreibt an die Menschenrechtsorganisation Cageprisoners, die sich gegen Guantánamo engagiert, und bittet um Kontakt zu ehemaligen Häftlingen. Die Mail ist der Beginn einer Zusammenarbeit. Cageprisoners veröffentlichen ein Interview mit Holdbrooks, er wird zu Vorträgen eingeladen, um über Guantánamo zu berichten. Terry Holdbrooks hat endlich eine Aufgabe.
Konvertiten wie er gelten als besonders religiös, weil sie den Glauben aus Überzeugung angenommen haben. Gegenüber einem wie ihm ist man misstrauisch. Erst recht, wenn er erzählt, er plane, Scharia-Recht in Saudi-Arabien zu studieren. Aber Holdbrooks sagt, er wolle das nicht tun, um nach der Scharia zu leben, sondern um den Islam zu verstehen. Er distanziert sich von jeglicher Gewalt. Er glaubt, dass einer wie er die Missverständnisse gegenüber der arabischen Welt am besten aufklären kann. Vielleicht hat er recht, denn er verleugnet seine westliche Kultur nicht. Er lebt alles andere als schariakonform, in Deutschland wohnt er bei seiner Facebook-Freundin, obwohl es ihm als gläubigem Muslim eigentlich verboten ist, sich mit ihr allein in einer Wohnung aufzuhalten.
In den letzten Monaten hat Holdbrooks die Revolutionen und den Kampf um Freiheit in der arabischen Welt genau beobachtet. »Es ist großartig, dass die Menschen dort für sich die Demokratie einfordern. Ich hoffe nur, dass es ihnen damit besser ergehen wird als uns in den USA«, sagt er. Sein Land ist in seinen Augen kein Vorbild mehr. Daran ändert für ihn auch ein Präsident Obama nichts. »Es geht nicht um den Kampf gegen den Terrorismus, die Medien belügen uns. Es geht allein um Geld und Öl.« Einst war Terry Holdbrooks bereit, für die USA sein Leben zu geben. In Guantánamo hat er den Glauben an sein Land verloren.